Kommentar EWS-Präsident Dr. Ingo Friedrich, 21. März, 2022
Je nach Ausgang des Krieges in der Ukraine zeichnen sich grundsätzlich zwei sehr unterschiedliche Wege ab, denen Russland zukünftig folgen wird. Dies rechtzeitig zu erkennen ist für den Westen wichtig, um jetzt Fehler zu vermeiden und auf die neue Ordnung der Welt vorbereitet zu sein.
Szenario 1:
Der Krieg endet mit einem Ergebnis, das Putin zuhause irgendwie als eine Art Erfolg verkaufen kann und ihm die Beibehaltung der Position des russischen Präsidenten ermöglicht. (Neutralität der Ukraine, Krim und Donbas bei Russland, Landbrücke zur Krim und schlimmstenfalls eine Marionettenregierung in Kiew):
In diesem Fall bleibt Russland für Jahrzehnte ein Paria der Weltpolitik à la Nordkorea, muss ständig seine Bevölkerung in der Ukraine und in Russland unterdrücken und muss Schutz bei China suchen. Es wird eine Art Juniorpartner Chinas und bewirkt dadurch eine neue Zweiteilung der Welt in einen Westen unter Führung der USA (mit einem Juniorpartner Europa) und einem eurasischen Osten unter Führung Chinas. Alle Formen des altbekannten kalten Krieges und wirtschaftlicher Konkurrenz sind dann denkbar. Dass China in einer solchen Konstellation seine Hände nach Taiwan ausstrecken wird, ist absehbar. Die Welt würde bei diesem Szenario deutlich unsicherer und unkalkulierbarer werden. Ob sich Russland in einer solchen doch irgendwie ambivalenten Rolle auf Dauer wohl fühlen wird, ist außerordentlich zweifelhaft.
Szenario 2:
Der Ausgang des Krieges führt zu einem Ergebnis, dass Putin nicht mehr schönreden kann (große Verluste der Streitkräfte, Einbruch der gesamten russischen Wirtschaft, Anklagen vor internationalen Gerichtshöfen, Forderung nach Reparationszahlungen, Aufruhr bei russischen Bürgern):
In diesem Fall verliert Putin früher oder später sein Amt. Danach könnten heftige Nachfolgekämpfe auftreten, incl. Putschversuchen der Armee, neue Entwicklungen in Belarus und brutale innerrussische Auseinandersetzungen nach dem Motto "wer ist schuld an dem Desaster". Zur Klärung der Verhältnisse müsste der Westen in diesem Fall über seinen Schatten springen und statt Vergeltungsgelüsten nachzuhängen den russischen Bürgern ein großzügiges wirtschaftliches Angebot machen. Ähnlich wie nach dem 2. Weltkrieg dem am Boden liegenden Deutschland die freundliche Versöhnungshand gereicht wurde, müsste dann mit Russland verfahren werden. Dann entstünde die Chance, dass westliche Werte wie Freiheit, Demokratie und Wohlstand nach Osten "diffundieren" und langfristig Russland Teil des Westens würde.
Voraussetzung einer solchen Entwicklung wäre natürlich ein gigantischer Lernprozess in Russland selber: Dieses größte Land der Welt müsste lernen zu akzeptieren, dass es auch nur eine von mehreren großen Nationen auf dieser klein gewordenen Welt ist. Ja dass es kein Imperium mehr ist, das über andere herrschen darf.
Diesen schwierigen Lernprozess haben immerhin England, Frankreich und Deutschland und ganz früher auch Spanien, Portugal und die Niederlande mit ihren Kolonien durchmachen müssen.
Die Ukraine würde sich voll nach Westen orientieren, incl. EU-Beitritt. Die neue Weltenteilung würde dann lauten: Der Westen inklusive des eurasischen Russlands steht im Wettbewerb mit dem asiatischen China.
Auch diese neue Ordnung der Welt wäre nicht spannungsfrei, aber die Erreichung der wichtigen globalen Ziele Klima, Hungerbekämpfung, Versorgung mit Wasser, Abschaffung von Folter und Unterdrückung wäre weniger gefährdet als beim ersten Szenario.
Insgesamt sieht es so aus, dass die Welt vor epochalen Veränderungen steht: Die nächsten Wochen entscheiden, ob es weltweit zu einer "2-zu-2-Situation" (USA/Europa zu China/Russland) kommen wird oder zu einer "3-zu1-Situation".